Warum wird es im Moment immer irrer?
Unser Gehirn lässt sich – vereinfacht gesagt – in drei Ebenen gliedern. Ganz unten, tief verborgen, sitzt das älteste Element: das Reptiliengehirn, auch Stammhirn genannt. Es ähnelt in seiner Struktur dem Gehirn einer Schlange oder eines Krokodils und ist bei allen Wirbeltieren nahezu identisch aufgebaut. Bei Tieren ohne ausgeprägte Säugetierstruktur, wie den Reptilien, nimmt es sogar fast das gesamte Gehirn ein. Seine Hauptaufgabe ist die Art- und Selbsterhaltung – es sorgt unermüdlich dafür, dass wir überleben können. Es steuert Atmung, Herzschlag und Blutdruck und hält uns selbst in Extremsituationen wie Bewusstlosigkeit oder Koma am Leben. Über ein dichtes Netzwerk von Nerven empfängt es fortwährend Informationen aus dem ganzen Körper und reagiert sofort, wenn Gefahr droht.
Doch dieser uralte Gehirnteil hat eine Eigenart: Er folgt fest verdrahteten, genetisch vorgegebenen Programmen, die auf Kampf oder Flucht ausgerichtet sind. Er unterscheidet nicht zwischen realen und eingebildeten Bedrohungen. Früher war das sinnvoll – ein Raubtier vor der Höhle bedeutete akute Lebensgefahr. Heute jedoch reagiert er ebenso auf einen Steuerbescheid, eine schlechte Nachricht im Fernsehen oder einen hitzigen Kommentar im Internet. Das führt dazu, dass wir in unserer modernen Welt oft unter Dauerstress stehen. Der Drang zu schnellen, instinktiven Reaktionen kann Aggressivität, Egoismus und rücksichtsloses Verhalten auslösen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.
Über diesem Reptiliengehirn liegt das limbische System, das sogenannte chemische Gehirn. Es ist unsere Gefühlszentrale, steuert Emotionen wie Freude, Ärger, Lust oder Angst und verbindet die äußeren Eindrücke mit den inneren körperlichen Reaktionen. Hier werden innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde Bewertungen vorgenommen: positiv, neutral oder negativ – lange bevor unser bewusster Verstand eingreifen kann. Bei positiven Bewertungen schüttet es Glückshormone wie Endorphine und Serotonin aus, bei negativen dagegen Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol. Diese chemische Reaktion beeinflusst unmittelbar, wie wir denken, fühlen und handeln. Unter anhaltendem Stress blockiert das limbische System das Stirnhirn, sodass logisches und überlegtes Denken erschwert wird.
Ganz außen schließlich befindet sich das Großhirn, der Neocortex, mit seiner höchsten Ausprägung im präfrontalen Kortex – unserem Stirnhirn. Es befähigt uns zu bewusstem Handeln, zu Planung, Kreativität, Selbstkontrolle und Mitgefühl. Hier können wir instinktive Impulse unterdrücken und Entscheidungen treffen, die nicht nur unserem kurzfristigen Vorteil dienen. Doch es kann seine volle Kraft nur entfalten, wenn die tieferen Gehirnregionen zur Ruhe kommen. Gerät das Reptilien- oder das limbische Gehirn in Alarmzustand, zieht sich das Stirnhirn energetisch zurück – und der uralte „Drachen“ übernimmt das Steuer.
In unserer heutigen Welt werden wir ständig mit Reizen überflutet, die unser Reptiliengehirn in Alarmbereitschaft versetzen. Nachrichten, soziale Medien, wirtschaftliche Unsicherheiten oder politische Spannungen – sie alle lösen uralte Überlebensmechanismen aus, obwohl keine unmittelbare Lebensgefahr besteht. Die Folge ist eine Gesellschaft, in der Angst, Konkurrenzdenken und Statuskämpfe oft den Ton angeben. Die sogenannte Ellenbogengesellschaft ist ein direktes Produkt dieser Dominanz des Reptiliengehirns: Menschen, die sich rücksichtslos durchsetzen wollen, getrieben von dem Bedürfnis nach Macht, Besitz und Anerkennung.
Der mögliche Ausweg liegt darin, das Stirnhirn wieder in den Vordergrund zu holen. Langzeitstudien an buddhistischen Mönchen zeigen, dass durch Meditation die Dominanz im Gehirn vom Reptilien- zum Stirnhirn verschoben wird. Dort entstehen nicht nur Glücksgefühle, sondern auch Mitgefühl und Weitsicht. Spezielle Trainingsmethoden können diesen Effekt auch bei Menschen hervorrufen, die keine jahrzehntelange Meditationserfahrung haben. So lässt sich der innere Drache beruhigen und wir gewinnen mehr Freiheit, Gelassenheit und Selbstkontrolle.
Wenn wir verstehen, wie unsere drei Gehirne zusammenarbeiten und wie leicht die älteren, instinktiven Bereiche die Kontrolle übernehmen, wird klar, warum es im Moment oft so „irre“ erscheint. Wir agieren in einer modernen Welt mit einem uralten Navigationssystem, das nicht für diese komplexen, vernetzten Herausforderungen gebaut wurde. Indem wir lernen, bewusst innezuhalten und dem Stirnhirn das Steuer zu überlassen, können wir nicht nur unser eigenes Leben friedlicher und klarer gestalten, sondern auch zu einer empathischeren und menschlicheren Gesellschaft beitragen.